Willi Ritschard und die Auseinandersetzung um die Atomkraft

Technischer Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum sind unerlässlich, um die Situation der Arbeiterschaft zu verbessern. Dieser Grundsatz war in den Reihen der Sozialdemokraten lange Zeit unbestritten, bis in den1970er-Jahren immer mehr kritische Stimmen laut wurden, die Wirtschaftswachstum und Technologie hinterfragten oder gar als Bedrohung anprangerten. Die Auseinandersetzung um die Atomenergie steht exemplarisch für diese Entwicklung. Und mitten in diesem Konflikt einer der populärsten Politiker, den die Schweiz je hervorgebracht hat: Der Solothurner Arbeiter-Bundesrat Willi Ritschard.

Warum plant die in Olten ansässige Elektrizitätsgesellschaft Aare-Tessin AG (Atel) in Kaiseraugst ein Atomkraftwerk, wenn doch im eigenen Kanton gleichwertige, wenn nicht sogar günstigere Voraussetzungen bestehen? Diese Frage stellte Walter Kräuchi, Kantonsrat und Präsident der SP des Kantons Solothurn, im April 1967 der Solothurner Regierung, unterstützt von der SP-Fraktion im Parlament. Willi Ritschard, damals Solothurner Finanzdirektor, bat seine Genossen um etwas Geduld. Er und seine vier Kollegen im Regierungsrat waren überzeugt, dass der Kanton Solothurn, der am Aktienkapital der Atel beteiligt und mit zwei Sitzen im Verwaltungsrat vertreten war, geradezu einen "moralischen Anspruch" auf ein Atomkraftwerk hat. Atomkraft, so war man sich in jenen Jahren quer durch das Parteienspektrum und auch bei den Umweltverbänden einig, sei die umweltfreundliche Alternative zu Flusskraftwerken, die Flüsse verschandeln und Kohle- oder Ölkraftwerken, die die Luft verpesten. Der Solothurner Finanzdirektor sah aber natürlich auch handfeste finanzpolitische Gründe, die für ein AKW im Kanton sprachen.

 

Der „Kühlturm-Entscheid“ des Bundesrates

Doch auch andere Kantone entlang der Aare und des Rheins bemühten sich damals um prestigeträchtige Atomkraftwerke. Während die zu erwartenden nuklearen Abfälle als einfach zu lösendes Problem angesehen wurden, gewann die Sorge um die Erwärmung der Flüsse, verursacht durch eine Reihe von wassergekühlten Kraftwerken immer grössere Bedeutung. 1971 erliess der Bundesrat schliesslich ein Verbot der direkten Flusswasserkühlung von künftigen Kraftwerken, was zur Folge hatte, dass nur noch Projekte mit Kühlturm eine Chance hatten. Die Solothurner Regierung war zwar der Meinung, dass ein Kühlturm nicht mit der Natürlichkeit und Unversehrtheit der Gegend am geplanten Standort in Däniken vereinbar sei, änderte ihre Meinung aber nach einer von der Atel finanzierten Reise ins Ruhrgebiet, die offenbar aufzeigte, wie schnell die Bevölkerung sich an Kühltürme gewöhnen kann.
Im solothurnischen Niederamt zeigten allerdings einige Leute wenig Lust auf „Ruhrgebiet“ vor der eigenen Haustüre. Die Vorstellung eines 150 Meter hohen Kühlturms beflügelte die bisher eher zaghafte Opposition. Die vorwiegend bürgerlich verankerte Organisation "Pro Niederamt" führte lokale Kundgebungen durch, reichte Einsprachen ein und versuchte 1973 sogar mit einer Unterschriftensammlung, die Absetzung der Solothurner Regierung zu erzwingen. Der Widerstand, der Ritschard in seinem Heimatkanton entgegenschlug, war aber nur ein laues Lüftchen im Vergleich zu dem, was ihn nach seiner Wahl in den Bundesrat erwartete.

 

Besetzung in Kaiseraugst

Während die Bauarbeiten für das Kernkraftwerk Gösgen (KKG) 1973 in Angriff genommen werden konnten, formierte sich in der Region Basel eine immer breitere Opposition gegen das geplante Atomkraftwerk Kaiseraugst. Die Basler monierten unter anderem fehlende Mitsprache der Region bei einem Projekt dieser Grössenordnung und wiesen auf die beispiellose Massierung von AKW-Projekten entlang der Aare und des Rheins hin. Als am 1. April 1975 AKW-Gegner kurzerhand das Baugelände in Kaiseraugst besetzten, war der Standpunkt des äusserst populären SP-Bundesrates klar: Die Schweiz braucht die Atomkraft für die Energieversorgung und die Besetzung ist ein inakzeptabler Rechtsbruch, den die Behörden nicht dulden können. Ritschard rechnete den Baslern vor: Die beiden Halbkantone bräuchten zusammen jährlich 2345 Millionen Kilowattstunden Strom, produzierten aber lediglich 908 Millionen selber.

Direkte Gespräche mit den Besetzern kamen für Ritschard nicht in Frage. Von seiner eigenen Partei, namentlich vom damaligen Parteipräsidenten Helmut Hubacher dazu gedrängt, willigte der Vorsteher des eidgenössischen Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartementes schliesslich in Verhandlungen mit einer von den Besetzern gewählten Delegation ein. Gegen aussen betonte Ritschard stets, dass es innerhalb der Landesregierung keine unterschiedlichen Positionen gebe, was die Haltung zur Besetzung betrifft. Es war aber ein offenes Geheimnis, dass einige Mitglieder der Landesregierung ein hartes Durchgreifen in Kaiseraugst befürworteten. Die Basler National Zeitung nannte in diesem Zusammenhang die drei Bundesräte Furgler, Brugger und Gnägi.

 

Willi Ritschard schliesst Armee-Einsatz aus

Auch die Regierung des Standortkantons Aargau plädierte für die harte Tour gegenüber den Besetzern. Doch, wie Helmut Hubacher damals in einem Zeitungsinterview meinte, sei dies aber auch eine Frage des Könnens. Die 250 Polizisten, die der Standortkanton Aargau aufbieten konnte, stellten eine magere Truppe dar. Der Einsatz einer interkantonalen Polizeitruppe wollte angesichts der Weigerung beider Basel, zu einer solchen Zusammenarbeit Hand zu bieten, auch nicht gelingen.
Wiederholt wurden in jenen Jahren Stimmen laut, die einen Armee-Einsatz in Kaiseraugst forderten. Willi Ritschard stellte sich aber stets unmissverständlich gegen diese Forderung. In einem Interview (Zeitschrift "Bilanz", Januar 1978) betonte er gar, er würde unverzüglich als Bundesrat zurücktreten, sollte die Regierung einen Armee-Einsatz gegen Zivilpersonen in Erwägung ziehen.

Während das ganze Land gebannt nach Kaiseraugst blickte, wurden in Däniken und in Leibstadt mehr oder weniger unbehelligt zwei Atommeiler hochgezogen. Befeuert von der Aufbruchstimmung in der Region Basel flammte der Widerstand in Däniken allerdings nochmals auf. Im April 1975 wurde versucht, die eingeschlafene „Aktion Pro Niederamt“ wieder zu beleben. Kurz darauf wurde die breiter abgestützte „Überparteiliche Bewegung gegen Atomkraftwerke Aargau/Solothurn (Ueba AG/SO) gegründet, die im Januar 1976 eine erste grosse Kundgebung in Niedergösgen, vor der Kulisse des Kühlturms und Reaktorgebäudes durchführte. Die grosse Protestwelle kam aber erst 1977, als der Kampf gegen „Gösgen“ Gegner aus der ganzen Schweiz und dem benachbarten Ausland mobilisieren konnte. Der traditionelle Pfingstmarsch endete im Mai 1977 vor dem fast fertig gestellten AKW Gösgen. Mit 10'000 Personen die bis anhin grösste und eindrücklichste Kundgebung gegen das Projekt. "Heute und hier demonstriert die Bevölkerung … gegen fast 20 Jahre parlamentarische Fehlarbeit. Sie entzieht diesem bürgerlichen Parlament ihr Vertrauen!" so der bekannte Schriftsteller Otto F. Walter bei der Kundgebung.

 

Der aussichtslose Kampf gegen das gebaute AKW Gösgen

Die heisseste Phase der Auseinandersetzung in Däniken markierten aber die beiden Besetzungsversuche der Zufahrtsstrassen im Juni und Juli 1977, mit denen die Lieferung der Brennelemente hätte verhindert werden sollen. Die SP des Kantons Solothurn zeigte zwar ein gewisses Verständnis für die Anliegen der Demonstranten und schwenkte in diesen Jahren zögerlich auf den AKW kritischen Kurs der schweizerischen Mutterpartei ein, wahrte aber Distanz zu der Aktion, bei der André Froidevaux von der Revolutionären Marxistischen Liga (RML) eine prominente Rolle spielte. Während die Aargauer Regierung zwei Jahre zuvor vergeblich an die eidgenössische Solidarität appellierte, gelang es dem Solothurner Regierungsrat, eine gut ausgerüstete interkantonale Polizeitruppe in die "Schlacht um Gösgen“ zu schicken. Zuständiger Regierungsrat war Polizeidirektor Gottfried Wyss. Der SP-Regierungsrat wagte sich gar mit einem Dienstfahrzeug mitten in den Demonstrationszug und versuchte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einer Aufgabe der Besetzung zu bewegen, was aber ohne Wirkung blieb. Nach den entsprechenden Warnungen wurden die Zufahrtsstrassen mit einem massiven Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern geräumt. Beim zweiten Besetzungsversuch kam es bei der polizeilichen Räumung zu einer Beinahe-Katastrophe, die nachträglich viel zu reden gab: Demonstrantinnen und Demonstranten wurden über die Bahngeleise getrieben, kurz bevor ein Schnellzug die Strecke passierte.
In einem späteren Interview (* siehe Anmerkungen) beklagte sich Godi Wyss darüber, dass der Polizei-Einsatz ihm als Einzelperson angelastet worden sei. „Dabei war ich damals nur einer von fünf Regierungsräten. Es gibt keine Besetzung! Das war ein Regierungsratsbeschluss, ich konnte da auch nichts anderes machen.“
Während die Besetzer in Kaiseraugst die Sympathie der lokalen Bevölkerung gewannen, schlug den Demonstranten in Däniken Skepsis und Ablehnung entgegen. Versorgten die Bauern in Kaiseraugst die Besetzer mit Lebensmitteln, boten sie im Niederamt laut Godi Wyss ihre Hilfe im Kampf gegen die Besetzer an, was die Polizei dankend ablehnte. Die Invasion der langhaarigen „Systemveränderer“ schien den Bauern bedrohlicher als ein Atomkraftwerk.

 

Grösste "Gösgen-Kundgebung" 1986

1979 nahm das Kernkraftwerk Gösgen (KKG) seinen Betrieb auf. Die grösste „Gösgen-Kundgebung“ fand jedoch erst 1986 als Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl statt. Rund 30‘000 Personen forderten den Ausstieg aus der Atomenergie. Mittlerweile war es für SP-Mitglieder und -Sympathisanten eine Selbstverständlichkeit, sich gegen die Atomenergie zu stellen. Für den wenig spektakulären Einsatz der Polizei, die sich 1986 weitgehend im Hintergrund hielt, war wiederum Regierungsrat Godi Wyss zuständig. Allerdings nicht mehr als der Vertreter der SP in der Regierung. Nachdem ihn die Partei ein Jahr zuvor nicht mehr für die Wahl nominiert hatte, kandidierte er auf eigene Faust und wurde prompt gewählt, während die beiden offiziellen Kandidaten der Partei auf der Strecke blieben.

Willi Ritschard bezeichnete 1983, kurz vor seinem Tod, gegenüber dem Westschweizer Radio die Auseinandersetzungen um die Atomenergie als die unangenehmste Erfahrung seiner Amtszeit als Bundesrat. Das umstrittene Thema steht stellvertretend für den schmerzlichen Prozess der Veränderung, aber auch der Erneuerung, den die SP des Kantons Solothurn in jenen Jahren durchgemacht hatte.

Das aussichtslose Projekt "Kaiseraugst" wurde übrigens erst 1988 mit einer Entschädigungszahlung von 350 Millionen Franken an die Bauherrschaft offiziell beerdigt.

 

Anmerkungen:

* Lizentiatsarbeit Dieter Ulrich "Von einer linken zu einer links-grünen Politik" (Universität Bern, 2004)

Thema Atomkraft im Kanton Solothurn

Polizeibilder von den Besetzungsversuchen beim AKW Gösgen

Polizeiwarnung vor dem Tränengas-Einsatz

(Audio aus dem Polizeifilm von 1977)

Godi Wyss wendet sich per Lautsprecher an die Demonstranten

(Audio aus dem Polizeifilm von 1977)

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