Der Generationenstreit um die Atomkraft

Momentaufnahme Nr. 6: Der Generationenstreit um die Atomkraft

Warum plant die in Olten ansässige Elektrizitätsgesellschaft Aare-Tessin AG (Atel) in Kaiseraugst ein Atomkraftwerk, wenn doch im eigenen Kanton gleichwertige, wenn nicht sogar günstigere Voraussetzungen bestehen? Diese Frage stellte Walter Kräuchi, Kantonsrat und Präsident der SP des Kantons Solothurn, im April 1967 der Regierung und rannte damit offene Türen ein. Willi Ritschard, damals Solothurner Finanzdirektor, und seine vier Kollegen im Regierungsrat waren überzeugt, dass der Kanton, finanziell an der Atel beteiligt und mit zwei Sitzen im Verwaltungsrat vertreten, geradezu einen «moralischen Anspruch» auf ein Atomkraftwerk hat. Atomkraft, so war man sich in jenen Jahren quer durch das Parteienspektrum und auch bei den Umweltverbänden einig, sei die umweltfreundliche Alternative zu Flusskraftwerken, die Flüsse verschandeln und Kohle- oder Ölkraftwerken, die die Luft verpesten.

Bundesrat Willi Ritschard und die Besetzer in Kaiseraugst
Obwohl der vom Bund erzwungene Kühlturm im Niederamt auf Widerstand stiess, konnte bereits 1973 mit dem Bau des Kernkraftwerks Gösgen (KKG) begonnen werden. Im selben Jahr wurde Willi Ritschard als inoffizieller SP-Kandidat in die Landesregierung gewählt, wo er das Departement für Verkehrs- und Energiewirtschaft übernahm. Als am 1. April 1975 das Baugelände in Kaiseraugst von AKW-Gegnern besetzt wurde, war der Standpunkt des überaus populären Bundesrates klar: Die Schweiz braucht die Atomkraft für die Energieversorgung, und die Besetzung ist ein inakzeptabler Rechtsbruch, den die Behörden nicht dulden können. Da der Kanton Aargau für eine Räumung nicht über genügend Polizeikräfte verfügte und die Bildung einer interkantonalen Polizeitruppe nicht gelingen wollte, gab es Stimmen, die den Einsatz der Armee verlangten. Willi Ritschard liess allerdings wiederholt durchblicken, dass ein Armee-Einsatz in Kaiseraugst für ihn nicht in Frage komme. In einem Interview (Bilanz, Januar 1978) betonte er gar, er würde unverzüglich als Bundesrat zurücktreten, sollte die Regierung einen Armee-Einsatz gegen Zivilpersonen in Erwägung ziehen.

Massiver Polizei-Einsatz in Gösgen
Befeuert von der Aufbruchsstimmung in der Region Basel, flammte der regionale Widerstand in Däniken nochmals auf. Die grosse Protestwelle kam aber erst 1977, als der Kampf gegen „Gösgen“ Gegner aus der ganzen Schweiz und aus dem angrenzenden Ausland auf die Beine brachte. Der traditionelle Pfingstmarsch endete im Mai 1977 vor dem fast fertig gestellten AKW. Die heisseste Phase der Auseinandersetzung folgte im Juni und Juli 1977, als AKW-Gegner versuchten, die Zufahrtsstrassen zu besetzen, um die Lieferung der Brennelemente zu verhindern. Die SP des Kantons Solothurn zeigte zwar ein gewisses Verständnis für die Anliegen der Demonstranten, wahrte aber Distanz zu der Aktion, bei der André Froidevaux von der Revolutionären Marxistischen Liga (RML) eine prominente Rolle spielte.
Während die Aargauer Regierung zwei Jahre zuvor vergeblich an die eidgenössische Solidarität appellierte, gelang es dem Solothurner Regierungsrat, eine gut ausgerüstete interkantonale Polizeitruppe in die «Schlacht um Gösgen“ zu schicken. Zuständiger Regierungsrat war der sozialdemokratische Polizeidirektor Gottfried Wyss. Beide Besetzungsversuche wurden mit massiven Polizeieinsätzen vereitelt.
1979 nahm das Kernkraftwerk Gösgen (KKG) seinen Betrieb auf. Die grösste „Gösgen-Kundgebung“ fand jedoch erst 1986 als Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl statt. Rund 30‘000 Personen forderten den Ausstieg aus der Atomenergie. Mittlerweile war es für SP-Mitglieder und -Sympathisanten eine Selbstverständlichkeit, sich gegen die Atomenergie zu stellen.

Die ausführliche Version dieses Artikels mit Zusatzinformationen lesen

Video zum Generationenkonflikt um die Atomkraft

Der Schriftsteller Peter Bichsel, der frühere Mitarbeiter von Bundesrat Willi Ritschard und der ehemalige Journalist Kurt Troxler schildern ihre Sicht auf den Generationenstreit um die Atomenergie.

Abkürzungen zu den Themen (auf Youtube in neuem Fenster):

Die Zeit von Willi Ritschard

Wie wird Beton zu Gras

Der Basler Liedermacher Aernschd Born war sozusagen das musikalische Sprachrohr der Besetzer von Kaiseraugst und war auch an den meisten Anti-AKW-Kundgebungen in Gösgen dabei. Am 25. Juni 1977, am Tag des ersten Besetzungsversuchs in Däniken, pendelte Born gar zwischen der Kundgebung und dem am gleichen Tag stattfindenden Folkfestival Lenzburg hin und her. Dort ist auch die folgende Aufnahme von seinem Lied «In Gösge schtoht e-n-AKW» entstanden. Eine Zeile des Liedes gab übrigens dem Buch des bekannten Schriftstellers Otto F. Walter «Wie wird Beton zu Gras» den Titel.

Aernschd Born - In Gösge schtoht e-n-AKW

Kurzer Ausschnitt aus dem Buch "Wie wird Beton zu Gras"

Schriftsteller und Liedermacher im Kampf gegen "Gösgen"

Quellenangabe Plakat:

Das Bild entstand während des zweiten Besetzungsversuches der Zufahrtswege zum AKW Gösgen, am 2./3. Juli 1977  (Bild Patrick Lüthy/Thomas Ledergerber imagopress.ch)

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Animation laden...Animation laden...Animation laden...

Newsfeed